Kalte Progression in Zeiten erhöhter Inflation – Die Rückkehr der kalten Progression
Seit Jahren gibt es eine Diskussion um die sog. kalte Progression, verbunden mit der Forderung deren Wirkung zu bekämpfen. Die Politik und der Gesetzgeber haben das Problem erkannt und in der Vergangenheit unterschiedliche Maßnahmen getroffen, die den Effekt der heimlichen Einkommensteuererhöhungen zwar immer wieder vorübergehend etwas abgemildert haben, lange Zeit aber nicht nachhaltig beseitigen konnten.
Das Phänomen der kalten Progression in der Wahrnehmung von Politik, Medien und Öffentlichkeit
Es gehört zu einem beliebten Narrativ von Politikern wie Medien im Zusammenhang mit dem Begriff der kalten Progression die Behauptung aufzustellen, eine Lohnerhöhung führe dazu, dass man danach weniger Geld in der Tasche habe als zuvor. Diesem populistischen Paradoxon liegt möglicherweise sogar eine Ablehnung des progressiven Einkommensteuertarifs zugrunde. Es handelt sich dabei aber zunächst nicht um ein Problem des Besteuerungssystems, sondern um eine Frage der Einkommensentwicklung. Denn erst wenn die Einkommenssteigerung nach Steuerabzug die Inflationsrate nicht übersteigt, bewirkt die Progression eine Verringerung des Realeinkommens.
Dreh- und Angelpunkt ist mithin die Inflation und deren Entwicklung. Nach der Wiedervereinigung bewegte sich die Inflation in Deutschland mehr als zwei Jahrzehnte auf niedrigem Niveau – meist bei Werten unter 2 % – und lag in einigen Jahren, wie etwa 2009, 2015 und 2016 sowie 2020 sogar unter 1 %. So konnte die Bundesregierung noch im Januar 2015 erklären, die kalte Progression zeige kaum Wirkung und sich mit relativ geringfügigen Maßnahmen zu deren Abmilderung begnügen (Bundesregierung, Steuerprogressionsbericht v. : https://go.nwb.de/xiytw). Bereits im Laufe des Jahres 2021 zeichnete sich jedoch eine höhere Inflationsrate ab, die auch von der sich konstituierenden Regierungskoalition zur Kenntnis genommen und im Koalitionsvertrag „Mehr Fortschritt wagen“ v. mit Bezug auf die Verpflichtung zur Preisstabilität gewürdigt wurde: „Die Sorgen der Menschen angesichts einer steigenden Inflation nehmen wir sehr ernst.“ Steuerrechtliche Konsequenzen wurden aus diesem Befund nicht gezogen und damit auch der Eindruck bestätigt, dass das Steuerrecht nicht zu den Schwerpunkten der Koalitionsverhandlungen gehört hat (s. Kanzler, Editorial zu NWB 49/2021 S. 3561). Nach den Jahren geringer Inflationsraten muss das Thema der kalten Progression nun aber wieder ernst genommen werden.
Definition, Bedeutung und Reichweite der kalten Progression
Von der „normalen“ Progression unterscheidet sich die kalte Progression dadurch, dass es erst dann zu den teils unerwünschten, teils akzeptierten Steuererhöhungen kommt, wenn der Einkommensteuertarif nicht an eine signifikante Änderung der Kaufkraft angepasst wird. Dieser Effekt wird daher auch als heimliche Steuererhöhung oder gelegentlich als fiskalische Dividende bezeichnet. In den sog. Steuerprogressionsberichten wird die kalte Progression etwas unglücklich wie folgt definiert: „Als kalte Progression werden Steuermehreinnahmen bezeichnet, die entstehen, soweit Einkommenserhöhungen die Inflation ausgleichen und es in Folge des progressiven Einkommensteuertarifs bei somit unverändertem Realeinkommen zu einem Anstieg der Durchschnittsbelastung kommt“. Die kalte Progression kann aber nicht als Steuermehreinnahmen bezeichnet werden, sondern sie führt allenfalls zu solchen. Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass Einkommenssteigerungen, die über die Inflationsrate hinausgehen, die steuerliche Leistungsfähigkeit erhöhen (s. nur BT-Drucks. 18/3894 S. 1). Damit wird etwas verschleiernd eingestanden, dass die heimlichen Steuererhöhungen durch die kalte Progression das Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen S. 481Leistungsfähigkeit und damit den Gleichheitssatz verletzen, weil der Steuerzugriff erst dann gerechtfertigt ist, wenn die Einkommenserhöhungen die Inflationsrate übersteigen.
Die kalte Progression begegnet aber auch deshalb verfassungsrechtlichen Bedenken, weil sie ohne eine ausdrückliche Entscheidung des Gesetzgebers zu Steuererhöhungen führen kann, die so nicht beabsichtigt sein können (vgl. Hechtner, StuW 2014 S. 132, 142 f.). Obwohl es sich daher nach dem Urteil vieler Autoren und Politiker um ein unerwünschtes Phänomen handelt, gibt es auch Befürworter der kalten Progression und erklärte Gegner einer Indexierung der Tarifeckwerte, wie sie in einigen anderen Staaten vorgesehen ist. Nach dieser rein fiskalischen Sicht kann die kalte Progression zum einen helfen, dass Staatsdefizite nicht aus dem Ruder laufen und bietet zum anderen eine ideale Grundlage dafür, dass der Staat im Abschwung regelmäßig konjunkturell gegensteuern kann (so Dullien, Wirtschaftswunder: https://go.nwb.de/694h2).
Obwohl die kalte Progression gemeinhin als ein ausschließlich den Einkommensteuertarif und damit die Tarifvorschrift des § 32a EStG betreffendes Phänomen diskutiert wird, reicht ihre Bedeutung weiter. Denn ein entsprechender Effekt zeigt sich auch bei den außertariflichen Abzügen und Höchstbeträgen. So wird zwar stets berücksichtigt, dass eine Erhöhung des Grundfreibetrags in § 32a Abs. 1 EStG auch zu einem entsprechenden Anstieg des, allerdings von der Bemessungsgrundlage abzuziehenden, Unterhaltshöchstbetrags nach § 33a Abs. 1 EStG führt. Die meisten anderen Frei- und Höchstbeträge bleiben indes über viele Jahre unverändert. So wurden etwa die seit 45 Jahren nicht an die gestiegenen Lebenshaltungskosten angepassten Pflegepauschbeträge erst kürzlich durch das Behinderten-Pauschbetragsgesetz v. (BGBl 2020 I S. 2770) angemessen erhöht (ausführlich dazu Kanzler, NWB 12/2021 S. 840 und Kanzler, NWB 13/2021 S. 898) und im bereits erwähnten Koalitionsvertrag der sog. Ampelkoalition die Absicht bekundet, den seit 2001 unverändert gebliebenen Ausbildungsfreibetrag moderat von 924 € auf 1.200 € zu erhöhen.
Der fortwährende Kampf gegen die kalte Progression
Nachdem die heimlichen Steuererhöhungen lange Zeit mehr oder weniger regelmäßig durch Steuerreformen beseitigt worden waren und eine systematische Eliminierung dieses Phänomens unter Hinweis auf die Haushaltslage unterblieben war (kritisch Tipke, StuW 2014 S. 282), kam es schließlich zu einem Durchbruch im Kampf gegen die kalte Progression. In dem das Gesetz zum Abbau der kalten Progression v. (BGBl 2013 I S. 283) betreffenden Verfahren wurde die Bundesregierung beauftragt, beginnend mit der 18. Legislaturperiode, alle zwei Jahre jeweils zusammen mit dem Existenzminimumbericht einen Bericht über die Wirkung der kalten Progression im Verlauf des Einkommensteuertarifs (Steuerprogressionsbericht) vorzulegen ( BT-Drucks. 17/9201 S. 4). Seitdem sind insgesamt vier Steuerprogressionsberichte neben den bisher ergangenen zwölf Existenzminimumberichten veröffentlicht worden.
Damit ist zwar nicht die Maximalforderung einer laufenden Anpassung des Einkommensteuertarifs an die Geldentwertung, der Schaffung eines Tarifs auf Rädern erfüllt, aber doch immerhin eine regelmäßige Überprüfung der kalten Progression gewährleistet, die eine tarifäre Umsetzung durch den Gesetzgeber ermöglicht. Eine inflationsabhängige Dynamisierung der übrigen einkommensteuerlichen Abzugsbeträge wird jedoch weder durch die Steuerprogressions- noch die Existenzminimumberichte sichergestellt. Vor allem aber ergibt sich aus der notwendigen vergangenheitsbezogenen Datenerhebung und der daraus abgeleiteten Prognose der Preisentwicklung für das kommende Jahr ein entscheidender Mangel: In Zeiten sich beschleunigender Inflation bedarf es einer Nachjustierung. Denn während der vierte Steuerprogressionsbericht v. ( BT-Drucks. 19/22900) noch von einer Preisentwicklung der Konsumausgaben privater Haushalte von 1,17 % für das Jahr 2021 ausging, ist die Inflationsrate im November 2021 auf 5,2 % angestiegen und die Diskussion unter Wirtschaftswissenschaftlern im Gange, ob es sich nur um einen vorübergehenden oder einen dauerhaften Effekt handelt.
Autor
Prof. Dr. Hans-Joachim Kanzler
ist Rechtsanwalt in Bad Kreuznach. Er ist Mitherausgeber des NWB EStG-Kommentars und des Handbuchs Bilanzsteuerrecht.
Fundstelle(n):
NWB 2022 Seite 480 - 481
NWB XAAAI-04945
Weitere NWB Spotlights finden Sie in der NWB Datenbank oder als PDF-Fassung unter den folgenden Links:
- PDF-Fassung
- NWB Datenbank: NWB NAAAI-02666
- PDF-Fassung
- NWB Datenbank: NWB VAAAI-04266
Das aktuelle NWB Spotlight lesen Sie im NWB PRO Abo: Ukraine-Krieg: Erste „bilanzielle Spurensuche“, NWB 13/2022 S. 878, NWB CAAAI-58312.
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