Interview mit Dr. Klaus Schindler und Heinrich Braun – Aktuelles zur Doppelbesteuerung der Renten
Vor fast einem Jahr, im März 2020, haben Sie Ihren Beitrag „Die Doppelbesteuerung von Renten ist Fakt!“ in der NWB 11/2020 S. 784 veröffentlicht und damit eine wahre Flut von Einsprüchen gegen die Rentenbesteuerung ausgelöst. Wie kam es dazu?
Braun: Durch Zufall habe ich vor zwei Jahren Kontakt zu meinem ehemaligen Mathematikdozenten hergestellt. Dieser hat mir dabei geschildert, dass er gegen die Rentenbesteuerung vorgehen möchte, aber bisher noch keinen Anwalt oder Steuerberater gefunden hat, der bereit ist, dieses Verfahren zu führen. Wir haben uns dann darauf geeinigt, dass wir mit einem geeigneten Rentner dieses Verfahren unter Honorarverzicht gemeinsam betreiben.
Schindler: Mir sind bei der Systemänderung der Rentenbesteuerung schnell einige raffinierte „mathematische Marketingtricks“ unangenehm aufgefallen. So beträgt z. B. im Jahr 2005 laut Gesetzgeber der steuerfreie Anteil der Rentenbeiträge 60 %. Dies suggeriert, dass es möglich ist, 60 % des Arbeitnehmerbeitrags zur Rentenversicherung abzusetzen, obwohl es in diesem Jahr effektiv nur 20 % sind. Im darauffolgenden Jahr sieht es ähnlich aus. Statt der angegebenen 62 % können effektiv nur 24 % des Arbeitnehmerbeitrags abgesetzt werden. Dies hat dann zur „Schindler/Braun-Formel“ (in NWB 11/2020 S. 784) geführt.
Sie haben eine Berechnungsmethode zur Ermittlung der Doppelbesteuerung entwickelt. Können Sie uns die Berechnungsmethode kurz erläutern?
Schindler: Für die im Jahr 2005 begonnene und bis 2040 andauernde Systemänderung in der Rentenbesteuerung, mit der u. a. die Besteuerungsanteile der Rentenbeiträge festgelegt werden, gestattet es die Schindler/Braun-Formel, einen Algorithmus zu erstellen, mit dem der versteuerte Teil der in der gesetzlichen Rentenversicherung erworbenen Entgeltpunkte bzw. der zugehörigen äquivalenten Rentenbeiträge ermittelt werden kann. Hierzu genügt ein einfacher Rentenbescheid. Da gleichzeitig mit der Systemänderung auch der zu versteuernde Anteil der Rentenbezüge zukünftiger Rentnerjahrgänge festgelegt wurde, ist es daher auch möglich, die Höhe der Doppelbesteuerung zu berechnen. Für standardisierte Eckrentner findet man die Höhe der Doppelbesteuerung in Abhängigkeit von Beitrags- und Rentenbeginn in Tabellen, die NWB-Lesern exklusiv zur Verfügung stehen.
Wie viele Rentner sind denn von einer Doppelbesteuerung betroffen?
Schindler: Nach unserer Berechnung fällt die Doppelbesteuerung mindestens für Rentner/Rentnerinnen an, die ab dem Jahr 2005 in den Ruhestand gehen. Zu diesem Zeitpunkt ist die Zweifachbesteuerung noch relativ gering, steigt aber aufgrund der getroffenen Übergangsregelungen sehr schnell an und erreicht in den Renteneintrittsjahren 2022 bis 2023 ihren Höchstsatz von 20 % bis 23 %. Ungerechterweise umso höher, je größer die Zahl der Beitragsjahre ist.
Und wie hoch ist nach Ihren Berechnungen der Betrag, der im Durchschnitt doppelt besteuert wird?
Braun: Bei einem Durchschnittsrentner sind das zwischen 1.000 € und 1.100 € pro Jahr. Bei 20 Millionen Rentner/Rentnerinnen entspricht das etwa 20 Mrd. € pro Jahr, die der Staat ungerechtfertigt abkassiert.
Was würden Sie betroffenen Rentnern und ihren steuerlichen Beratern nun raten?
Braun: Alle Rentner bzw. deren Steuerberater sollten auf Basis der in der NWB veröffentlichten Tabellen Einspruch einlegen, dazu das Ruhen des Verfahrens nach § 363 AO beantragen und sich auf das Musterverfahren beim FG Saarland unter dem Aktenzeichen 3 K 1072/20 berufen (s. hierzu auch NWB 23/2020 S. 1684).
Gibt es schon Rückmeldungen, wie die Finanzämter auf die Einspruchsflut reagieren?
Braun: Wie die Praxis zeigt, reagieren die Finanzbehörden auf die Einsprüche unterschiedlich. Zum Teil wird dem Ruhen direkt entsprochen, teilweise werden aber extreme Anforderungen an die Einspruchsführer gestellt, indem vom Kläger eine explizite Berechnung der Doppelbesteuerung und die Vorlage der Steuerbescheide oder Erklärungen aller Jahre gefordert wird.
Und was sollte man tun, wenn das Finanzamt an den Einspruchsführer extreme Anforderungen stellt?
Braun: Da das Rechnen Teil der Rechtsanwendung ist, besteht für Finanzämter die Pflicht, Berechnungen selbst vorzunehmen oder Musterverfahren abzuwarten. Die Bürger haben Mitwirkungspflichten aus § 90 AO, insbesondere müssen sie die erforderlichen Tatsachen beibringen. Es genügt, dass der Einspruchsführer den Rentenversicherungsverlauf vorlegt, weil sich daraus retrograde die Rentenbeiträge aller Jahre berechnen lassen. Schlussfolgerungen aller Art, also Berechnungen, wie viele Beiträge aus versteuertem und wie viele aus unversteuertem Einkommen zu leisten waren, ergeben sich aus dem Steuerrecht vergangener Jahre und der Mathematik. Die Behörde ist verpflichtet, dies kostenlos zu leisten. Für die Vorlage der alten Steuerbescheide besteht keine Pflicht, da die Steuerbescheide Rechtsfolgen enthalten, welche die Finanzämter früher gezogen haben und die von den Rentnern nicht aufbewahrt werden müssen.
In NWB 11/2020 S. 784 weisen Sie auch auf das von Ihnen geführte Musterverfahren 3 K 1072/20 vor dem FG Saarland hin. Was unterschiedet dieses Verfahren von den beiden aktuell beim BFH anhängigen Verfahren?
Braun: In den zwei anhängigen BFH-Verfahren X R 20/19 bzw. X R 33/19 geht es um private Rentenversicherungen eines Zahnarztes bzw. um einen Steuerberater, der auch Einzahlungen in ein Versorgungswerk erbracht hat. In dem vor dem FG Saarland anhängigen Verfahren 3 K 1072/20 geht es dagegen um einen Angestellten, der stets steuerfreie Zuschüsse zur Rentenversicherung erhalten hat. Daher beschreibt gerade dieses Verfahren die große Masse der Rentenbezieher, wodurch es als Musterverfahren besonders gut geeignet ist, zumal der Kläger darin erstmalig eine Berechnungsmethode liefert (zu den Details s. auch NWB 23/2020 S. 1684).
Ganz aktuell haben Sie, Herr Braun, ein weiteres Musterverfahren zur Doppelbesteuerung der Renten vor dem FG Saarland angestrengt. Es hat das Aktenzeichen 3 V 1023/21. Was unterschiedet dieses Verfahren von dem Musterverfahren 3 K 1072/20?
Braun: Es handelt sich in diesem Verfahren um eine Rentnerin, die einen Aussetzungsantrag nach § 69 FGO beim Finanzgericht eingereicht hat. Die Managerin zahlte in 49 Jahren die Summe von 390.177 € in die Rentenkasse ein, wovon mindestens 154.190 € bereits versteuert waren. Auf Basis der Entgeltpunkte der Deutschen Rentenversicherung hat die Rentnerin einen besteuerten Anteil der Rentenbezüge von 43,17 %, wovon nach § 22 EStG jedoch nur 24 % steuerfrei belassen werden. Daher liegt eine Doppelbesteuerung von 19,17 % vor. Die Rentnerin begehrt in ihrem Einspruchsverfahren, dass 1.500 € pro Jahr vom Vollzug ausgesetzt werden. Vorauszahlungen hatte sie keine geleistet. Die Behörde lehnte unverzüglich und ohne jede Begründung die Aussetzung der Vollziehung ab. In diesem Verfahren zeigte die Finanzbehörde ihre extrem aggressive Position, indem sie die Rentnerin mit einer irreführenden Rechtsbehelfsbelehrung zur Rücknahme des Einspruchs zu bewegen versuchte. Dadurch würde freilich der unbedarfte Bürger – ganz im Sinne der Behörde – alle Rechte verlieren, insbesondere auch die Möglichkeit zur Aussetzung der Vollziehung.
Was ist abschließend Ihr Fazit, ganz kurz und knapp?
Schindler/Braun: Da die Frage der Doppelbesteuerung der Renten nicht in der Liste der vorläufigen Steuerfestsetzungen enthalten ist, sind die Rentner/Rentnerinnen zum Einspruchsverfahren gezwungen, um ihre Bescheide offen zu halten. Alle Rentner/Rentnerinnen sollten deshalb unbedingt Einspruch einlegen und Ruhen des Verfahrens beantragen. Der Einspruch sollte keinesfalls zurückgenommen werden, da sonst der Verlust des Rechtsschutzes droht.
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- Schindler/Braun, Die Doppelbesteuerung von Renten ist Fakt! - Alle Rentner ab dem Jahr 2005 betroffen, NWB 11/2020 S. 784 [OAAAH-43786] – Inklusive Ergebnistabellen „Doppelbesteuerung von Eckrentnern mit 45/40/35 Beitragsjahren“.
- Schindler/Braun, Doppelbesteuerung der Renten – Was ist zu tun?, NWB 23/2020 S. 1684 [RAAAH-49653]
- Schindler/Braun, Das BMF und die Doppelbesteuerung der gesetzlichen Renten, NWB 30/2020 S. 2220 [CAAAH-53967]
- Schindler/Braun, Rentenbesteuerung erneut vor Gericht, NWB 7/2021 S. 476 [DAAAH-70981]
Dr. rer. nat. Klaus Schindler, Dipl.-Mathematiker, unterrichtete 1982 bis 2018 Finanzmathematik an der Universität des Saarlandes.
Heinrich Braun, Dipl.-Kfm., Steuerberater in eigener Kanzlei in Mannheim, spezialisiert auf steuerliches Verfahrensrecht (AO/FGO), Finanzgerichtsverfahren.