Herausforderung Umsatzsteuer im Europäischen Binnenmarkt

Das Modell Europa ist in die Jahre gekommen. Die aktuellen Herausforderungen sind gewaltig, ob Finanzkrisen, Flüchtlingsproblematik oder die Probleme im Hinblick auf den unerwarteten Ausstieg eines Mitglieds dieser Gemeinschaft, denn auch wenn es sich nur um eine Wirtschafts- und teilweise Währungsunion und damit um einen losen Verbund einzelner souveräner Staaten handelt, lassen sich die politischen Probleme schlicht nicht ausblenden.

Während die einen in diesem Krisen-Potpourri den Beginn des Untergangs Europas sehen, behaupten die anderen, die Zeit ist reif für die Grundsteinlegung einer europäischen Republik. Aber beides ist weit von der Wirklichkeit entfernt. Aktuell gilt es, die Bestände Europas zu sichern und wieder zu ordnen. Der Überfall Russlands auf die Ukraine zeigte zunächst ein nie dagewesenes Zusammengehörigkeitsgefühl Europas, das aber nur zwei Jahre später schon wieder bröckelt. Jeder ist sich selbst der Nächste und einzelne Mitgliedstaaten sind sich nicht zu schade, den Rest der Gemeinschaft zu erpressen. Denn im 21. Jahrhundert steht die Finanzierung all dieser Aufgaben im Mittelpunkt unserer Lebenswirklichkeit. Auch hehre Ziele bedürfen der Finanzierung. Und da gehen die Wege eben auseinander.

Denn gerade die unterschiedlichen Finanzierungsmethoden der Staatshaushalte der einzelnen Mitgliedstaaten der Union sind das größte Hindernis, das einer wirklichen Annäherung zurzeit im Wege steht. Die einzelnen Mitgliedstaaten haben eine sehr unterschiedliche Gewichtung der staatlichen Aufgaben, die gewachsenen Steuer- und Sozialsysteme sind unterschiedlich aufgebaut. Nicht selten bedeuten dann Entscheidungen zur Harmonisierung einen tiefen Eingriff in die bisherige Finanzautonomie der Mitgliedsländer und beeinflussen somit in hohem Maße die nationale Verteilungspolitik, wie die permanente Frage um die finanzielle Unterstützung insbesondere Griechenlands und Italiens zeigt. So wundert es denn nicht, dass Harmonisierungen nur sehr mühsam voranschreiten.

Ein weiteres, nicht zu unterschätzendes Problem ist die Regelungswut der Europäer. Wer ernsthaft schriftlich festlegt, dass „ein Führersitz der einer Person Platz bietende Sitz ist, der für den Führer bestimmt ist, wenn dieser die Zugmaschine führt“, darf sich nicht darüber wundern, dass die betroffenen Menschen europamüde geworden sind und sich weniger Staat und Bürokratie wünschen. Während in den Jahren nach dem II. Weltkrieg Papierbeschaffung noch eine zentrale Herausforderung war und so de facto die Gesetzesflut eindämmte, bricht die digitale Welt alle Dämme und bietet dem Reglementierungswahn der Europäer alle Möglichkeiten der Entfaltung. Hatten die Europäer beispielsweise noch 1992 beschlossen, einen Standardmehrwertsteuersatz von mindestens 15 Prozent in den Mittelpunkt zu rücken und Ausnahmen nur in begründeten Ausnahmefällen zuzulassen und auf eine Angleichung des Mehrwertsteuersatzes durch die Kräfte des Marktes gehofft, wurden zur Privilegierung einzelner Mitgliedstaaten und Gewerbezweige immer mehr absurde Ausnahmeregelungen in Bezug auf den ermäßigten Steuersatz zugelassen.

So ist die Mehrwertsteuer heute ein gigantischer Flickenteppich. Auch Deutschland setzt einzelne Vorschriften der MwStSystRL trotz mehrerer anhängiger Vertragsverletzungsverfahren schlicht nicht um, weil es einigen Lobbyverbindungen nicht gefällt, sei es im Bereich der Landwirtschaft, in Bezug auf die Steuerbarkeit von Mitgliedsbeiträgen an Vereinen oder im Hinblick auf die Steuerbefreiung von Unterrichtsleistungen. Dieser Selbstbedienungsladen Europa muss aufpassen, dass er seine Kredite bei den Bürgern nicht nach und nach verspielt, denn die Grundidee eines vereinten Europas ist und bleibt einzigartig und beispiellos. Man weiß leider nicht, ob dies auch den unzähligen Mitarbeitern in Europas Ministerialbürokratie noch bekannt ist.

Umsatzsteuer im Binnenmarkt

Zum 1.1.1993 wurde aufgrund der Unterzeichnung der „Einheitlichen Europäischen Akte” der Gemeinsame Binnenmarkt eingeführt, die Vollendung des „Umsatzsteuerlichen Binnenmarktes” ist aber auch heute noch lange nicht abgeschlossen. Trotz der weitgehenden Harmonisierung der Umsatzsteuer waren die Zielvorstellungen der einzelnen Mitgliedstaaten der Europäischen Union schon seinerzeit so unterschiedlich, dass die entsprechenden Regelungen als Übergangsmaßnahmen verabschiedet wurden und ein endgültiges gemeinsames Umsatzsteuersystem immer noch aussteht. Wann dieses tatsächlich eingeführt werden wird, lässt sich zurzeit noch nicht absehen, zu unterschiedlich sind die Auffassungen der Mitgliedsländer und die bürokratischen Hemmnisse.

EU-Aktionsplan zur Mehrwertsteuer

Mit ihrem „Aktionsplan zur Mehrwertsteuer“ stellte die EU-Kommission schon vor einigen Jahren in der entsprechenden Präambel selbst klar, dass „das System der Mehrwertsteuer insbesondere kleinen und mittleren Unternehmen zu schaffen macht“, weil es „zu fragmentiert und zu kompliziert ist.“ Nicht selten sind die Kosten zur Befolgung der ausgefeilten Mehrwertsteuer-Vorschriften höher als die damit verbundene Abgabe, ein Umstand, der zwar allenthalben Kopfschütteln nach sich zieht, nur eben keine Anpassung der Vorschriften. Die Kommission hat einen Arbeits- und Zeitplan vorgelegt, um das aktuelle Mehrwertsteuersystem zu modernisieren und hält einen Neustart für dringend erforderlich. Das Konzept erfordert aber dabei von den Mitgliedstaaten erhebliche Veränderungen ihres nationalen Steuerrechts, wozu die meisten Mitgliedstaaten in der Vergangenheit eben gerade nicht bereit waren.

So geht denn auch die Kommission davon aus, dass es „politischer Führungskraft bedarf, um die tief verwurzelten Hindernisse zu überwinden, um endlich die notwendigen Reformen zu verabschieden.“ Es bleibt zu wünschen, dass die Europäer dieses Konzept sorgfältig prüfen, einschließlich des Vorschlags der Kommission, endlich das Einstimmigkeitsprinzip im Steuerrecht aufzugeben, welches bislang das größte Hindernis zur Durchsetzung ernsthafter Reformen war.

Ende des Harmonisierungsprozesses ist noch lange nicht abzusehen

Sollte hier kein Konsens gefunden werden, müssen wir auch in den nächsten Jahren mit einem völlig unzureichenden Besteuerungssystem leben, dem insbesondere der Makel anhaftet, dass es die an sich vorhandene Grundsystematik der Umsatzsteuer verändert und sich immer mehr in der Lösung von Einzelproblemen verliert. So kehrt auch 30 Jahre nach Einführung der als 4-jährige Übergangsregelung gedachten Bestimmungen zum Binnenmarkt in diesem Teilbereich des Umsatzsteuerrechts keine Ruhe ein, von einem endgültigen und durchdachten Umsatzsteuersystem sind wir weit entfernt. Auch in den nächsten Jahren ist mit umfangreichen Änderungen sowohl der MwStSystRL als auch der MwStVO zu rechnen, insbesondere im Rahmen der Initiative „Mehrwertsteuer im digitalen Zeitalter“ („VAT in the Digital Age - VIDA).

Auszug aus dem Vorwort zur 12. Auflage des Handbuchs „Umsatzsteuer im Binnenmarkt“ von Ralf Sikorski.

Gesamtübersicht über das geltende Umsatzsteuerrecht im Europäischen Binnenmarkt

Die 12. Auflage „Umsatzsteuer im Binnenmarkt“ gibt eine Gesamtübersicht über das geltende Umsatzsteuerrecht im Europäischen Binnenmarkt und hilft so, den Überblick in diesem Steuerchaos zu behalten. Dabei werden nicht nur die innergemeinschaftlichen Warenlieferungen, sondern auch die innergemeinschaftlichen Dienstleistungen in ihrer Gesamtheit abgehandelt, insbesondere die Regelungen zur Ortsbestimmung sowie die damit einhergehenden Meldepflichten und das eng damit verbundene Thema „Übergang der Steuerschuldnerschaft“.

Ein besonderer Mehrwert ist der aktuelle Überblick über das Umsatzsteuerrecht der anderen EU-Mitgliedstaaten einschließlich Hinweisen zur E-Rechnungspflicht.

Darum ist das Handbuch so wertvoll für die Praxis

Die Anwendung der Umsatzsteuer im Europäischen Binnenmarkt wirft viele Fragen auf. Was müssen Unternehmen beachten, die Leistungen von ausländischen Unternehmen erhalten? Was muss ein inländischer Unternehmer berücksichtigen, wenn er eine Leistung im Ausland erbringt? Welche Regelungen gelten bei innergemeinschaftlichen Reihen- und Dreiecksgeschäften? Wie funktioniert OSS? Praxisnah und umfassend gibt dieses Standardwerk in nunmehr 12. Auflage Antworten auf die wichtigsten praktischen Fragen und schafft Klarheit!

Weitere Informationen zur Neuauflage finden Sie hier.

Buch Umsatzsteuer Binnenmarkt

 

Umsatzsteuer im Binnenmarkt

Von Diplom-Finanzwirt Ralf Sikorski unter Mitarbeit von Steuerberaterin Annette Pogodda-Grünwald

12. Auflage. 2024. XXVII, 891 Seiten. Gebunden. Inklusive Online-Version
ISBN: 978-3-482-67962-9

Preis: 119,00 €

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