Gibt es eine Wesentlichkeit im steuerlichen Jahresabschluss? – BFH sieht Aktivierungsgebot für RAP auch bei Geringfügigkeit
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I. Bisherige Auffassung des BFH
Der BFH ging in seiner bisherigen Rechtsprechung davon aus, dass auf die Bildung eines aktiven Rechnungsabgrenzungspostens (RAP) „nach der Maßgabe des Grundsatzes der Wesentlichkeit“ verzichtet werden darf, wenn die abzugrenzenden Beträge von untergeordneter Bedeutung sind und eine unterlassene Abgrenzung das Jahresergebnis nur unwesentlich beeinflusst.1
Erfreulicherweise scheute der BFH auch die Festlegung eines absoluten Werts nicht: Er orientierte sich an der Grenze für die geringwertigen Wirtschaftsgüter von damals 410 € (jetzt 800 €) und akzeptierte einen Verzicht der Bildung aktiver RAP bis zu eben dieser Höhe.
Für die Praxis hatte das den angenehmen Effekt, sich nicht mit Kleinbeträgen von wenigen Euro bei der Bildung aktiver RAP beschäftigen zu müssen. Hierzu trug in hohem Maße bei, dass die Grenze des BFH keine für die aktive Rechnungsabgrenzung insgesamt war, sondern sich auf den einzelnen Abgrenzungsposten bezog.
II. Aktuelle BFH-Rechtsprechung
Die Finanzverwaltung weiß aber, dass auch „Kleinvieh Mist macht“ und ging deshalb gegen diese Auffassung vor. Einen willkommenen Anlass bot offenbar die Entscheidung des .2 Diese folgte den im Abschnitt I erläuterten Grundsätzen des BFH, weshalb der Kläger am FG (noch) obsiegte.
1. Sachverhalt
Die einzelnen aktiven RAP für zwei Versicherungen, drei Positionen Werbung und nicht weniger als neun Mal Kfz-Steuer betrugen zwischen 72 € und 395 €. In der Summe ergaben sich für die drei Prüfungsjahre 1.340,95 €, 1.549,96 € und 1.315,05 €. Offenbar hatte einer der Beteiligten sogar die Centbeträge (!) in die mathematisch korrekte Ermittlung einbezogen.
2. Argumentation des BFH
Der BFH prüfte in seinem Urteil den Wortlaut von § 5 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 EStG und erkannte, dass dort kein Wahlrecht zum Nichtansatz geregelt ist. Er erklärte sodann den Kaufleuten in Zitatform, dass es nicht in deren Belieben stehen könne, sich ärmer zu machen, als sie sind,3 vielmehr müsse der volle Gewinn erfasst werden. Um den Argumenten auch genügend Gewicht zu verleihen, wurden schließlich sogar der Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes (Art. 3 GG) sowie die Gesetzesbegründung4 bemüht. Und letztlich folgte auch noch die Erläuterung, dass § 6 Abs. 2 EStG (GWG) einen Förderzweck hat, die Regelung zu aktiven RAP aber nicht.
Der aufmerksame Leser des Urteils war indes ein wenig verwundert, dass das Argument der Wesentlichkeit keine Bedeutung haben sollte. Auch wenn dieses nicht ausdrücklich in § 5 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 EStG erwähnt wird, gab es doch genügend Anhaltspunkte, es als einen allgemein gültigen Grundsatz der Bilanzierung anzunehmen.
Der BFH schreibt dazu:
„Die Existenz des Grundsatzes der Wesentlichkeit [...] steht zwar außer Frage. [...] Für ein Wahlrecht im Rahmen des § 5 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 EStG hätte es aber [...] einer gesetzlichen Regelung bedurft, wonach es dem Steuerpflichtigen erlaubt ist, in Fällen von geringer Bedeutung auf eine genaue Abgrenzung zu verzichten [...]“.
III. Wesentlichkeit in der Handelsbilanz
Die Wesentlichkeit ist auch eine nicht im Gesetz geregelte Rechnungslegungsgrundlage des handelsrechtlichen Jahresabschlusses. Die mehr als schön zu lesende Erläuterung von Hoffmann/Lüdenbach5 soll dem Leser auf keinen Fall vorenthalten werden:
„Die Rechnungslegungsgrundlage S. 1118der Wesentlichkeit teilt eine Gemeinsamkeit mit dem Schätzungserfordernis [...], beide werden im HGB nicht erwähnt [...]. Aus der Nichterwähnung als Bilanzierungsgrundsatz im HGB darf keineswegs die Unbeachtlichkeit oder gar Ungültigkeit des Wesentlichkeitsgrundsatzes gefolgert werden. Das folgt schon aus den Bedürfnissen der Praxis, die sich nicht zuletzt auch im Zeitalter des fast close [...] nicht mit Kleinbeträgen herumschlagen kann. Der Verzicht auf das Klein-Klein kann auch soziologisch typisiert werden: Das Pendant ist nicht mit dem ehrbaren Kaufmann zu vereinbaren, der im Tagesgeschäft den Blick auf die strategische Entwicklung richten muss, in der Formulierung Friedrich Hölderlins: „Der weithin blickende Kaufmann“. So soll sich auch der Richter nicht mit Peanuts beschäftigen, das war schon die Devise des römischen Rechts: „Minima non curat praetor“.6 Anders formuliert: Der Wesentlichkeitsgrundsatz stellt einen generellen Vorbehalt der Rechtsanwendung und der Informationsvermittlung [...] dar.“
Dass die Wesentlichkeit zum Teil auch gesetzlich formuliert ist (z. B. Gruppenbewertung nach § 240 Abs. 3 HGB, Zwischenergebniseliminierung nach § 304 Abs. 2 HGB u. a.), ändert nichts daran, dass es daneben Fälle gibt, die nicht im Gesetz geregelt sind.
Als beispielhafte Begründung mag der Klassiker dienen, nämlich die „Übernahme“ der GWG-Regelung in den handelsrechtlichen Jahresabschluss: Da es keine umgekehrte Maßgeblichkeit der Steuer- für die Handelsbilanz (mehr) gibt, kann der unbestritten richtige Nichtansatz von GWG in der handelsrechtlichen Rechnungslegung nur mit dem nicht im Gesetz geregelten Wesentlichkeitsgrundsatz begründet werden.7
IV. Folgen für die Steuerbilanz
Der handelsrechtliche Bilanzansatz ist maßgeblich für die steuerliche Rechnungslegung (Maßgeblichkeit). § 5 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 EStG schreibt vor, wer aufgrund gesetzlicher Vorschriften Bücher zu führen und regelmäßig Abschlüsse zu machen hat, muss das Betriebsvermögen ansetzen, welches sich nach den handelsrechtlichen Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung ergibt. Nach § 250 Abs. 1 HGB gilt für die aktiven RAP:
„Als Rechnungsabgrenzungsposten sind auf der Aktivseite Ausgaben vor dem Abschlussstichtag auszuweisen, soweit sie Aufwand für eine bestimmte Zeit nach diesem Tag darstellen.“
Einer Regelung im EStG bedürfe es für die aktiven RAP deshalb nach dem Maßgeblichkeitsgrundsatz nicht, es gibt sie in § 5 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 EStG aber dennoch:
„Als Rechnungsabgrenzungsposten sind nur anzusetzen
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auf der Aktivseite Ausgaben vor dem Abschlussstichtag, soweit sie Aufwand für eine bestimmte Zeit nach diesem Tag darstellen;“
Soll tatsächlich angenommen werden, wegen des Wortes „nur“ („Als Rechnungsabgrenzungsposten sind nur anzusetzen...“) besteht eine abweichende steuerliche Regelung (lex specialis), welche die handelsrechtliche obsolet macht?
Wer das mit Recht aufgrund der ansonsten vorhandenen Wortgleichheit der beiden Regelungen nicht annimmt, der wird dem Ergebnis zustimmen müssen, die handelsrechtliche Wesentlichkeit – und zwar in dem Fall diejenige, die außerhalb des Gesetzes existiert (siehe Abschnitt III) – ist aufgrund der Maßgeblichkeit auch für die Steuerbilanz maßgeblich.
Der BFH ignoriert mit seinen Ausführungen (siehe Abschnitt II.2: es gäbe zwar den Grundsatz der Wesentlichkeit, aber soweit eine gesetzliche Regelung fehlt, sei dieser nicht anzuwenden) den Teil der Wesentlichkeit, der nicht im Gesetz verankert ist.
Die m. E. richtige Entscheidung im Urteilsfall des BFH wäre folglich gewesen:
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Die geringfügigen aktiven RAP brauchen aufgrund des Grundsatzes der Wesentlichkeit in der Handelsbilanz nicht angesetzt zu werden.
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Die Maßgeblichkeit sorgt für die Übernahme dieser Entscheidung in die Steuerbilanz.
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Eine steuerliche Regelung mit abweichendem Inhalt (lex specialis) zur Bildung der aktiven RAP existiert nicht.8
V. Appell an das BMF
Der Autor ist schon seit einigen Jahren nicht mehr in der Verantwortung einer Steuerkanzlei und darf deshalb feststellen: Die Arbeitsbelastung der Kanzleien ist – seitdem die wirtschaftlichen Folgen aus dem Auftreten des Coronavirus vorhanden sind – nahezu nicht mehr zu bewältigen. Die Kanzleien haben in vorbildlicher Weise dafür gesorgt, dass die Corona-Hilfsmaßnahmen sach- und im Rahmen des Leistbaren auch zeitgerecht bearbeitet wurden und noch werden. Sie haben dadurch massiv dazu beigetragen, die Liquidität der Unternehmen und damit eine Vielzahl von Arbeitsplätzen zu sichern und zugleich große Betrugsfälle zulasten des Staatshaushalts zu verhindern. Diese Belastung wird durch die 2022 anstehenden Arbeiten der Grundsteuerreform leider nicht geringer werden.
Wenn schon die Richter des BFH im vorliegenden Fall der Auffassung waren, sich um Kleinigkeiten kümmern zu müssen, sollte es das BMF nicht ebenso handhaben. Das Urteil bedeutet in seiner letzten Konsequenz, dass auch Beträge von z. B. 1 € (und weniger?) in die Bilanzposition der aktiven RAP eingehen und hierzu bearbeitet werden müssen.
Dem BMF steht es aber frei zu verfügen, dass geringfügige, nicht gebildete aktive RAP in der Prüfung der Finanzämter nicht aufgegriffen werden. Das würde nicht nur die Arbeitsbelastung der Steuerkanzleien mindern, sondern auch diejenige der Außenprüfer.
Welcher Grenzbetrag hierfür der richtige ist, lässt sich aus Sicht des Steuerberaters gut begründen: Es ist die bewährte Grenze der GWG-Vorschrift von derzeit 800 €.
Da die Finanzverwaltung aber gegen diese Auffassung den BFH angerufen hat, ist kaum zu erwarten, dass sie sich in einem BMF-Schreiben wiederfinden wird. Als bewährter Kompromiss für geringfügige Streitigkeiten, die aber dennoch geklärt werden müssen, erscheint deshalb das Treffen in der Mitte zwischen 0 € und 800 € (je Abgrenzungsposten) zielführend.
Fazit
Die Entscheidung des BFH, bei aktiven RAP gäbe es keine Wesentlichkeit, ist m. E. rechtsfehlerhaft, weil sie eine gesetzliche Grundlage als notwendig erachtet. Diese Auffassung sollte in einem späteren Urteil überdacht werden. Die BFH-Entscheidung ignoriert die unbestritten vorhandene handelsrechtliche Rechnungslegungsgrundlage der Wesentlichkeit außerhalb von gesetzlichen Regelungen und verstößt damit gegen den Maßgeblichkeitsgrundsatz.
Autor
Fundstelle(n):
BBK 2021 Seite 1116 - 1119
NWB MAAAH-95288
3 NWB NAAAH-88660, Rz. 13, unter Bezugnahme auf den Beschluss des Großen Senats v. - GrS 2/68, BStBl 1969 II S. 291 NWB UAAAA-90474.
4BT-Drucks. V/3187, S. 4.
5Hoffmann/Lüdenbach, NWB Kommentar Bilanzierung, 12. Aufl. 2021, § 252 Rz. 233 NWB HAAAH-61873.
6Um Kleinigkeiten kümmert sich der Richter (eigentlich Vorgesetzter, Anführer...) nicht.
7Hoffmann/Lüdenbach, NWB Kommentar Bilanzierung, 12. Aufl. 2021, § 252 Rz. 239 NWB HAAAH-61873.
8Auch die handelsrechtliche Regelung zur Wesentlichkeit enthält dem Wortlaut des Gesetzes nach keine Wesentlichkeit. Dennoch stellt deren Beachtung die ganz überwiegend herrschende Meinung dar.