Gewagter Vergleich: Wirecard-Jahresabschluss gegenüber Dieselgate

Die aktuellen Hinweisbeschlüsse des OLG München

Das OLG München vergleicht die Rolle des Wirecard-Jahresabschlussprüfers mit dem Dieselskandal. Ob die vorsätzlich-sittenwidrige Schädigung im Verschweigen einer unzulässigen Abschalteinrichtung durch den Hersteller oder in einer – unterstellt – „gewissenlosen“ Abschlussprüfung durch einen Wirtschaftsprüfer besteht, könne, so das Gericht, keinen Unterschied machen. Dieser in einer Pressemitteilung verbreitete Vergleich ist gewagt. Er scheint sich zumindest auch an die Öffentlichkeit zu richten und auf deren empörte Reaktion abzuzielen. Im Übrigen macht es schon einen Unterschied, ob ein Automobilhersteller die Abgaswerte vorsätzlich und in Kenntnis der Rechtswidrigkeit durch eine verbotene Abschalteinrichtung manipuliert und dies gegenüber seinen Kunden und gegenüber dem Kapitalmarkt bewusst verschweigt oder ob ein Abschlussprüfer fahrlässig, ggf. vielleicht sogar grob-fahrlässig bis hin zu leichtfertig, unzureichende Prüfungshandlungen vornimmt, aber selbst Opfer des Betrugs seines Prüfungsmandanten wird.

Schmitz/Lorey/Harder, Berufsrecht und Haftung der Wirtschaftsprüfer, 3. Aufl. 2022, NWB PAAAI-01812

Kernaussagen
  • Die in § 323 Abs. 1 Satz 3 HGB zum Ausdruck kommende gesetzgeberische Intention, den Adressatenkreis der Haftung des Abschlussprüfers zu begrenzen, gilt sowohl bei vertraglichen als auch bei gesetzlichen Anspruchsgrundlagen. Die durch das FISG beibehaltene und dadurch sogar noch einmal betonte Grundentscheidung des Gesetzgebers ist deshalb auch und gerade im Rahmen der deliktischen Prüferhaftung zu berücksichtigen.

  • Ein Anscheinsbeweis zugunsten geschädigter Anleger kommt allenfalls bei prospektgestützten Kaufentscheidungen in Betracht, nicht dagegen bei einem Sekundärerwerb über die Börse. Bei einem Sekundärerwerb über die Börse reicht es auch nicht aus, dass der Anleger den Bestätigungsvermerk des Prüfers tatsächlich gelesen hat. Denn selbst dadurch würde sich eine etwaige Pflichtverletzung des Prüfers nicht, wie von § 323 Abs. 1 Satz 3 HGB vorausgesetzt, konkret gegen den einzelnen enttäuschten Anleger richten.

  • Eine positive Anlagestimmung des Bestätigungsvermerks kommt selbst im Wirecard-Skandal nicht in Betracht, da Form und Inhalt des Bestätigungsvermerks gesetzlich vorgegeben sind, sich der Bestätigungsvermerk auf die Rechnungslegung des Emittenten insgesamt und nicht wie Ad-hoc-Mitteilungen nur auf einzelne, momentan bedeutsame und für die zukünftige Entwicklung besonders relevante Umstände bezieht und er somit vergangenheitsbezogen ist.

I. Die aktuellen Hinweisbeschlüsse des OLG München

1. Sachverhalt

Wie aus der Pressemitteilung des  [1] hervorgeht, hatte die Wirecard AG, ein ehemaliges DAX-30-Unternehmen, mit Ad-hoc-Mitteilung vom  darüber informiert, dass Bankguthaben auf Treuhandkonten i. H. von insgesamt 1,9 Mrd. € mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht bestünden. Am  stellte die Wirecard AG Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Vier Tage später, am , versagte ihre Abschlussprüferin und spätere Beklagte, die seit rund zehn Jahren durchgängig die Abschlüsse des Unternehmens geprüft hatte, den Bestätigungsvermerk für das Jahr 2019. Das Insolvenzverfahren wurde am  durch das AG München eröffnet.

Diese Vorgänge hatten einen drastischen Kursverlust der Wirecard-Aktie zur Folge. Zahlreiche Anleger erlitten faktisch einen Totalverlust. Hunderte von ihnen nehmen die Abschlussprüferin wegen ihres Verlusts auf Schadenersatz in Anspruch. Laut der Pressemitteilung des OLG München wies das LG München I zahlreiche dieser Klagen in erster Instanz ohne Beweisaufnahme ab. Es verneinte sowohl die haftungsbegründende Kausalität zwischen den angeblichen Pflichtverletzungen bei der Prüfung der Abschlüsse der Wirecard AG und dem Schaden, der im Erwerb der Wirecard-Aktien begründet S. 83sein sollte, als auch die behauptete haftungsbegründende Pflichtverletzung selbst. Zumindest zwei Berufungssenate des OLG München vertreten eine andere Auffassung und halten eine Haftung der Abschlussprüferin wegen vorsätzlich-sittenwidriger Schädigung gem. § 826 BGB zumindest für möglich. [2]

2. Vorläufige Auffassung des Berufungsgerichts

Der 3. und der 8. Zivilsenat des OLG München weisen in ihren Hinweisbeschlüssen vom 13. bzw. vom  übereinstimmend darauf hin, dass die vom BGH entwickelten Grundsätze über die Beeinflussung der Anlageentscheidung durch Prospektfehler [3] unabhängig davon gelten, ob die Schadenersatzforderung auf vertragliche oder deliktische Anspruchsgrundlagen gestützt wird. Sie halten fest, dass ein Prospektfehler auch ohne Kenntnisnahme des Prospekts durch den Anleger für die Anlageentscheidung ursächlich wird, wenn der Prospekt entsprechend dem Vertriebskonzept der Fondsgesellschaft von den Anlagevermittlern als Arbeitsgrundlage verwendet wird. Dies gelte genauso für die Haftung eines Wirtschaftsprüfers für unrichtige Bestätigungsvermerke, die in Prospekten verwendet würden. [4] Denn auch die im Prospekt abgedruckten Bestätigungsvermerke seien dann aufgrund der Verwendung des Prospekts entsprechend dem Vertriebskonzept durch Anlagevermittler Grundlage der Anlageentscheidung geworden. [5] Hierauf könnten sich die auf Schadenersatz klagenden Wirecard-Aktionäre jedoch nicht berufen, da sie ihre Aktien über die Börse erworben hätten und ihrer Kaufentscheidung somit kein Prospektmaterial zugrunde gelegen hätte. [6]

Jedoch halten es der 3. und der 8. Zivilsenat des OLG München für möglich, dass die Bestätigungsvermerke der beklagten Wirtschaftsprüfungsgesellschaft – genau wie reißerische [7] Ad-hoc-Mitteilungen [8] des Emittenten selbst – zu einer positiven Anlagestimmung geführt haben. Die Berufungssenate sehen eine Vermutung für einen Kausalzusammenhang zwischen einem Unternehmensbericht und der Kaufentscheidung eines Anlegers. Auch hier komme es nicht darauf an, dass der Anleger den Bericht gelesen oder gekannt hat. Maßgeblich sei vielmehr, dass der Bericht die Einschätzung eines Wertpapiers in Fachkreisen mitbestimme. [9] Die dadurch erzeugte Anlagestimmung könne jeder Anleger für sich in Anspruch nehmen. Sie ende erst bei neueren Einschätzungen bzw. Unternehmensdaten. Das OLG München betont, dass der BGH die Veröffentlichung neuerer Unternehmensdaten wie etwa eines Jahresabschlusses ausdrücklich für geeignet halte, um eine einmal begründete positive Anlagestimmung wieder zu beenden. [10] Dann müsse aber im Umkehrschluss ein Jahresabschluss auch dazu geeignet sein, eine solche positive Anlagebestimmung erst zu begründen oder fortzusetzen. [11]

Das OLG hebt hervor, dass die Emittenten gem. § 325 Abs. 1 Nr. 1 HGB ihren Jahresabschluss und Lagebericht zusammen mit dem Bestätigungs- oder Versagungsvermerk des Abschlussprüfers im Bundesanzeiger offenzulegen haben. Mithin sei der Bestätigungs- oder Versagungsvermerk ein sog. unternehmensexternes Informationsinstrument. Seine Wirkung könne nicht isoliert, sondern nur in Verbindung zu dem geprüften Jahresabschluss und Lagebericht bestimmt werden. [12] Denn die Veröffentlichungen der DAX-Unternehmen im Bundesanzeiger würden von der Wirtschaftspresse, von Analysten und Anlageberatern regelmäßig ausgewertet und in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang zum Gegenstand von Kauf-, Halte- oder Verkehrsempfehlungen gemacht. [13] Zu einer etwaigen Anlagestimmung hätten die Kläger aber noch nicht ausreichend vorgetragen. Erforderlich sei hierfür eine konkrete Darstellung des Kursverlaufs der Wirecard-Aktie unter Berücksichtigung der Veröffentlichung der Bestätigungsvermerke sowie der anderen Faktoren, die für die Einschätzung des Wertpapiers ebenfalls bestimmend gewesen sein könnten, wie insbesondere die angesprochene negative Berichterstattung in Teilen der Wirtschaftspresse, z. B. durch Vorlage und Bewertung entsprechender Kurscharts. [14] Gegebenenfalls sei ein gerichtliches Sachverständigengutachten einzuholen. [15]

Darüber hinaus bejaht das OLG München bei vorläufiger Betrachtung auch aufgrund des konkreten Geschehensablaufs einen Anscheinsbeweis. Hätte die beklagte Wirtschaftsprüfungsgesellschaft bereits in früheren Jahren festgestellt, dass die von der Wirecard AG i. H. von 1,9 Mrd. € behaupteten Treuhandguthaben in Wirklichkeit gar nicht existieren, hätte sie ihren Bestätigungsvermerk entsprechend früher versagt. Die Versagung des Bestätigungsvermerks hätte von der Wirecard AG in einer Ad-hoc-Mitteilung an den Kapitalmarkt offengelegt werden müssen. Zudem hätte die Wirecard AG dann bereits früher Insolvenzantrag stellen müssen. Zu den streitgegenständlichen Aktienerwerben wäre es deshalb nicht gekommen. [16] Im Fall einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung diene der Schadenersatzanspruch, so das OLG München, nicht nur dem Ausgleich jeder nachteiligen Einwirkung durch das sittenwidrige Verhalten auf die objektive Vermögenslage des Geschädigten. Vielmehr müsse sich der Geschädigte von einer auf dem sittenwidrigen Verhalten beruhenden Belastung mit einer „ungewollten“ Verpflichtung auch wieder befreien können. Denn § 826 BGB ziele, wie das OLG München herausstellt, auf den Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit ab, die insbesondere das wirtschaftliche Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen beinhalte.

Das gilt nach Auffassung des OLG München genau wie im Dieselskandal auch im vorliegenden Fall. Ob die vorsätzlich-sittenwidrige Schädigung im Verschweigen einer unzulässigen Abschalteinrichtung durch den Hersteller oder in einer – S. 84unterstellt – „gewissenlosen“ Abschlussprüfung durch einen Wirtschaftsprüfer besteht, könne nämlich keinen Unterschied machen. Denn hier wie dort gehe es um den Schutz des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts des Einzelnen. [17] Der für einen Schadenersatzanspruch erforderliche Vorsatz des Prüfers dürfe, so das OLG, nicht verneint werden, bevor nicht die Pflichtverletzung beurteilt würde. Widersprüche zwischen dem von der Wirecard AG selbst bei einer anderen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft in Auftrag gegebenen Sondergutachten und der Erwiderung der beklagten Prüfungsgesellschaft darauf seien durch ein gerichtliches Sachverständigengutachten aufzuklären. [18] Auch der Ermittlungsbeauftragte des Bundestags-Untersuchungsausschusses sei als Zeuge zu vernehmen. [19] Das OLG München erwägt, die Verfahren zur Nachholung der Beweisaufnahme gem. § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO an das LG München I zurückzuverweisen. [20] Angesichts der zahlreichen Parallelverfahren sollte das LG zudem die Einleitung eines Verfahrens nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) in Betracht ziehen. [21]

II. Eigene Überlegungen zu den Hinweisen des OLG München

1. Keine Kausalitätsvermutung zugunsten „normaler“ Aktionäre

Die vom 3. und 8. Zivilsenat des OLG München übereinstimmend vertretene Rechtsauffassung erscheint in weiten Teilen zumindest diskussionswürdig. Fraglich ist insbesondere die vorläufig geäußerte Meinung des Berufungsgerichts, dass der Bestätigungsvermerk des gesetzlichen Abschlussprüfers eine positive Anlagestimmung herbeiführen soll. Die Abschlussprüfung hat eine Garantiefunktion für die öffentliche Rechnungslegung. [22] Sie dient somit der Allgemeinheit und gerade nicht einzelnen Kapitalmarktteilnehmern. Auch den Schutz konkreter Vertragspartner des geprüften Unternehmens beabsichtigt die Abschlussprüfung jedenfalls nicht von Vornherein. Dies kommt gerade in § 323 Abs. 1 Satz 3 HGB zum Ausdruck. Nach dieser Vorschrift haftet der Prüfer für vorsätzliche und fahrlässige Pflichtverletzungen nur dem geprüften und mit diesem verbundenen Unternehmen, zu denen er in einer vertraglichen (zu dem geprüften Unternehmen) oder in einer besonders engen tatsächlichen und damit vertragsähnlichen Beziehung (zu mit dem geprüften Unternehmen verbundenen Unternehmen) steht. Eine Haftung einzelnen prüfungsvertragsfremden Dritten gegenüber kommt allenfalls in engen Ausnahmen in Betracht.

Das als Reaktion auf den Wirecard-Skandal erlassene Gesetz zur Stärkung der Finanzmarktintegrität (Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz – FISG) [23] erhöhte zwar die summenmäßigen Haftungshöchstgrenzen des § 323 Abs. 2 HGB. Diese – nach neuem Recht angehobenen – Haftungshöchstgrenzen gelten nur noch bei einfacher Fahrlässigkeit. Anders als zuvor haftet der Prüfer deshalb seinem Prüfungsmandanten und mit diesem verbundenen Unternehmen für grob-fahrlässige Pflichtverletzungen der Höhe nach unbegrenzt, so dass es keines Rückgriffs mehr auf § 826 BGB bedarf. Die in § 323 Abs. 1 Satz 3 HGB zum Ausdruck kommende Intention, den Adressatenkreis der Prüferhaftung auf das geprüfte und mit diesem verbundene Unternehmen zu beschränken, ließ das FISG dagegen unangetastet. Der durch das FISG deshalb sogar noch bekräftigte Rechtsgedanke des § 323 Abs. 1 Satz 3 HGB begrenzt nicht nur die vertragliche Prüferhaftung (Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter), sondern gilt auch für die gesetzliche Haftung (Prospekthaftung, deliktsrechtliche Haftung aus unerlaubter Handlung). [24] Deshalb setzt auch die deliktische Haftung aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit einem Schutzgesetz bzw. aus § 826 BGB einen Drittbezug voraus. [25] Die Pflichtverletzung des Prüfers muss sich somit gegen den konkreten Anspruchsteller gerichtet haben. [26]

Laut OLG München soll sich der Bestätigungsvermerk aber als öffentliche Kapitalmarktinformation gem. § 1 Abs. 2 Satz 1 KapMuG an eine Vielzahl von Anlegern [27] und damit an den Kapitalmarkt insgesamt richten. Schon das spricht gegen einen konkreten Drittbezug. Für den Verfasser ist zweifelhaft, ob dieser erforderliche Drittbezug bei einer Aufnahme des Bestätigungsvermerks des Prüfers in einen Emissionsprospekt bejaht werden könnte. Denn der Bestätigungsvermerk ist nur eine von einer Vielzahl von Pflichtinformationen des Prospekts, die der Gesetzgeber nicht jeweils für sich allein, sondern vielmehr in ihrer Gesamtheit für die Entscheidungsfindung der interessierten Öffentlichkeit für notwendig hält. [28] Deshalb dürfte entgegen der Rechtsprechung des BGH [29] selbst hier eine Kausalitätsvermutung nicht in Betracht kommen. [30] Jedenfalls zeigt sich aber aus der Rechtsprechung des BGH, dass eine Kausalitätsvermutung zulasten des Abschlussprüfers allenfalls bei einer prospektgestützten Anlageentscheidung über den Primärmarkt denkbar ist und gerade nicht bei „normalen“ Aktionären, die ihre Anteile auf dem Sekundärmarkt, also über die Börse, erwerben. [31] Weil „normale“ Aktionäre demnach gem. § 286 ZPO den Vollbeweis dafür zu führen haben, dass sich die Pflichtverletzung des Abschlussprüfers konkret gegen sie gerichtet hat, reicht es für sie keinesfalls aus, seinen Bestätigungsvermerk gelesen zu haben oder dies zu behaupten.

Eine positive Anlagestimmung scheidet für den Verfasser schon aufgrund der in § 323 Abs. 1 Satz 3 HGB zum Ausdruck kommenden haftungsbegrenzenden Intention des Gesetzgebers aus. Darüber hinaus ist nach der Rechtsprechung des BGH sogar bei Ad-hoc-Mitteilungen über aktuelle Entwicklungen, die direkt vom Emittenten selbst ausgehen und deren Form S. 85und Inhalt dieser frei bestimmen kann, eine Anlagestimmung mit der Folge einer Anwendbarkeit der Grundsätze des Anscheinsbeweises nur ausnahmsweise möglich. [32] Diese Zurückhaltung gilt nach der Rechtsprechung des BGH selbst bei besonders überzogenen und unseriösen Mitteilungen. [33] Dabei sind gerade Ad-hoc-Mitteilungen über wesentliche aktuelle, neue Tatsachen aus dem Unternehmensbereich momentan bedeutsam für eine akute, zeitnahe Entscheidung zum Kauf oder Verkauf der Aktie. [34] Selbst wenn sich im Einzelfall aus besonders positiven Signalen einer Ad-hoc-Mitteilung eine regelrechte Anlagestimmung ergeben kann, nimmt diese ohnehin mit zeitlich wachsendem Abstand ab. [35] Im Gegensatz zu einer Ad-hoc-Mitteilung ist der Bestätigungsvermerk des Prüfers vergangenheitsbezogen. Er bezieht sich auf das abgelaufene Geschäftsjahr. Gerade weil der Bestätigungsvermerk des Prüfers genau wie der gesamte Jahresabschluss des Emittenten vergangenheitsbezogen ist, dürfte eine Anlagestimmung für die Zukunft fern liegen.

Zudem betrifft der Bestätigungsvermerk die Ordnungsmäßigkeit der gesamten Rechnungslegung und nicht nur einzelne besonders aktuelle Entwicklungen, die Anlass für besondere Euphorie bieten könnten. Form und Inhalt des Bestätigungsvermerks des Abschlussprüfers sind darüber hinaus einheitlich durch § 322 HGB vorgegeben. Er erfüllt somit aus Sicht des Verfassers keinesfalls die Vorgaben des BGH, die ausnahmsweise zu einer Beweiserleichterung aufgrund einer Anlagestimmung führen sollen. Entgegen der Auffassung des OLG München reicht auch der konkrete Geschehensablauf nicht für einen Anscheinsbeweis aus. Denn selbst eine ordnungsgemäß durchgeführte Abschlussprüfung deckt nicht zwangsläufig jedwede Bilanzmanipulation auf. Die Abschlussprüfung ist nämlich keine Deliktsprüfung. Zwar hat der Prüfer der Geschäftsleitung seines Prüfungsmandanten mit einer kritischen Distanz zu begegnen. Besonderes Misstrauen soll er dagegen nicht an den Tag legen müssen. [36] Zudem ist es keineswegs ausgeschlossen, dass ein dolos, also vorsätzlich handelnder Geschäftsführer als Reaktion auf weitere Prüfungshandlungen versucht, die Aufdeckung des Betrugs zu verzögern oder durch weitere Täuschungshandlungen gänzlich zu verhindern. [37] Gerade bei der Wirecard AG soll der kriminelle Einfallsreichtum besonders groß gewesen sein. Deshalb scheidet selbst auf der Basis des konkreten Geschehensablaufs ein Anscheinsbeweis, der immer einen typischen Geschehensverlauf voraussetzt, letztlich aus.

2. Keine Schmälerung des Haftungsfonds für die Insolvenzmasse

Solange sich die vorsätzlich-sittenwidrige Pflichtverletzung des Abschlussprüfers nicht direkt gegen einen konkreten Anleger richtet, entsteht dessen Schaden lediglich als Reflex der Verletzung des Prüfungsvertrages. Dann würde aber ein Direktanspruch des Anlegers zu einer Schmälerung des der Insolvenzmasse und somit der gleichmäßigen Gläubigerbefriedigung zur Verfügung stehenden Haftungsfonds führen. Denn für Vorsatz haftet der Prüfer dem geprüften und mit diesem verbundenen Unternehmen der Höhe nach unbegrenzt. Die summenmäßigen Haftungshöchstgrenzen des § 323 Abs. 2 HGB gelten lediglich bei Fahrlässigkeit. Bei Vorsatz galten sie bereits nach altem Recht nicht. Durch das FISG wurde die der Höhe nach unbegrenzte Haftung gegenüber der Insolvenzmasse bei der Prüfung von börsennotierten Aktiengesellschaften gem. § 323 Abs. 2 Satz 2 HGB n. F. auf grob-fahrlässige Pflichtverletzungen ausgeweitet.

Bei einer vorsätzlichen Herbeiführung des Versicherungsfalls besteht für die gesetzlich vorgeschriebene Berufshaftpflichtversicherung des Prüfers gem. § 103 VVG keine Leistungspflicht. Bei grob-fahrlässigen Pflichtverletzungen kann der Berufshaftpflichtversicherer die Leistung gem. § 26 Abs. 1 Satz 2 VVG in einem der Schwere des Verschuldens entsprechenden Verhältnis kürzen, u. U. sogar auf null. Bei vorsätzlichen oder grob-fahrlässigen Pflichtverletzungen kommt es für die gleichmäßige Gläubigerbefriedigung gem. § 38 InsO also entscheidend auf den bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft oder ggf. in ihrem Prüfernetzwerk vorhandenen Haftungsfonds an. Dieser darf aus Sicht des Verfassers jedenfalls dann, wenn es um einen bloßen Reflexschaden des Anlegers geht, nicht durch einen Wettlauf der Gläubiger zulasten der Insolvenzmasse und damit zulasten der gleichmäßigen Gläubigerbefriedigung geschmälert werden.

3. Keine Umgehung des § 199 InsO

Dies gilt umso mehr für Aktionäre, die aufgrund der vorsätzlichen oder grob-fahrlässigen Verletzung des Prüfungsvertrages einen Reflexschaden erleiden. Denn diese würden in der Insolvenz ihres Unternehmens selbst dann leer ausgehen, wenn sie zu dem Erwerb ihrer Anteile durch eine vorsätzlich-sittenwidrige Schädigung der Unternehmensleitung verleitet wurden, die der Abschlussprüfer pflichtwidrig nicht aufgedeckt hat. Neben ihren Ansprüchen auf Rückzahlung des eingesetzten Kapitals treten nämlich auch ihre diesbezüglichen Schadenersatzansprüche gegen den Emittenten gem. § 199 InsO hinter die Insolvenzforderungen gem. §§ 3839 InsO zurück. [38] Nach der Rechtsprechung des BGH handelt es sich bei diesen auf Rückgewähr der geleisteten Einlage gerichteten Schadenersatzforderungen gerade nicht um Insolvenzforderungen gem. §§ 3839 InsO.

Aus dem Rechtsgedanken des § 39 Abs. 3 InsO folgt für den BGH, dass die mit solchen Forderungen zusammenhängenden Zinsen, Kosten und Sekundäransprüche denselben Rang teilen wie die Forderung auf Rückzahlung der Einlage selbst. Deshalb können die Schadenersatzansprüche im Insolvenzverfahren über das Vermögen des Emittenten nicht als Insolvenzforderung gem. §§ 3839 InsO, sondern erst im Rahmen des sich an die Schlussverteilung bei dann noch vorhandenem Vermögen ggf. anschließenden Innenausgleichs der Gesellschafter berücksichtigt werden. [39] Schon deshalb dürfen sich Anleger, die genau wie ihre Mitaktionäre aufgrund der fehlerhaften Prüfung bloß einen Reflexschaden erleiden, nicht auf Kosten S. 86der Insolvenzmasse an dem Prüfer schadlos halten und dadurch das bei ihm zugunsten der tatsächlichen Insolvenzgläubiger bestehende Haftungsvermögen reduzieren. [40]

4. Unterschiedliche Haftungsregimes

Aber nicht nur aus Gründen der Gläubigergleichbehandlung, sondern auch aus Gründen der Systemgerechtigkeit ist es aus Sicht des Verfassers geboten, Anlegeransprüche gegen den Abschlussprüfer auf diejenigen Fälle zu beschränken, in denen sich die vorsätzlich-sittenwidrige Schädigungshandlung des Prüfers direkt gegen einen konkreten Aktienerwerber richtet. Da der Abschlussprüfer nämlich nur zu dem geprüften Unternehmen in einem Vertragsverhältnis steht, sind bei Prüfungsfehlern lediglich die Schäden des Unternehmens zu ersetzen, nicht aber etwaige Schäden prüfungsvertragsfremder Dritter. [41] Wenn das geprüfte Unternehmen infolge eines fehlerhaften Testats nicht oder erst verspätet Insolvenzantrag stellt, muss der Prüfer also für die sich bei dem Unternehmen vertiefende Überschuldung einstehen. [42] Durch die Unternehmensfortführung entstehende Vermögensmehrungen würden seine Haftung mindern. Auch Reflexschäden prüfungsfremder Dritter braucht der Prüfer gar nicht zu ersetzen. Mit diesen Grundprinzipien wäre eine Direkthaftung des Prüfers gegenüber prüfungsvertragsfremden Anteilserwerbern auf Ersatz des von ihnen an der Börse bezahlten Kaufkurses nur schwer zu vereinbaren. Zudem wäre auch in Fällen grober Fahrlässigkeit und sogar bedingten Vorsatzes ein vorsätzliches Mitverschulden der Geschäftsleitung des geprüften Unternehmens anzurechnen.

Zwar würden gravierende Pflichtverletzungen des Abschlussprüfers nicht vollständig hinter den Vorsatz der Geschäftsleitung des geprüften Unternehmens zurücktreten. Nach der Rechtsprechung des BGH haftet der Prüfer jedoch für Pflichtverletzungen nahe der groben Fahrlässigkeit lediglich zu 1/3 bei einem Mitverschulden des geprüften Unternehmens von 2/3 . [43] Deshalb wäre selbst bei leichtfertigen Pflichtverletzungen des Prüfers, die die Schwelle zur groben Fahrlässigkeit oder sogar zum bedingten Vorsatz überschreiten, wohl immer noch von einem individuell zu berücksichtigenden Mitverschulden des vorsätzlich handelnden Prüfungsmandanten auszugehen. Denn mit dem  steht fest, dass als Mitverschulden nicht nur Täuschungshandlungen während der Prüfung, die bewusst eine Irreführung des Abschlussprüfers bezwecken, anzurechnen sind, sondern Bilanzmanipulationen insgesamt. [44] Bei einer Direkthaftung des Prüfers gegenüber prüfungsvertragsfremden Dritten fiele dieses Mitverschulden jedoch systemwidrig unter den Tisch.

III. Kein Musterverfahren nach dem KapMuG

Entgegen dem Hinweis des OLG München dürfte ein Musterverfahren nach dem KapMuG wohl ausscheiden. Ein solches Verfahren kommt gem. § 1 Abs. 1 KapMuG nur in Betracht, wenn wegen einer falschen, irreführenden oder unterlassenen öffentlichen Kapitalmarktinformation oder wegen der Verwendung einer solchen falschen bzw. irreführenden Kapitalmarktinformation Schadenersatz gefordert wird. Bei dem Bestätigungsvermerk des Abschlussprüfers handelt es sich aus Sicht des Verfassers allerdings gerade nicht um eine Kapitalmarktinformation i. S. des § 1 Abs. 1 KapMuG. Das ergibt sich aus § 1 Abs. 2 Nr. 5 KapMuG. Danach sind lediglich die vom Emittenten im Bundesanzeiger zu veröffentlichenden Jahresabschlüsse, Lageberichte, Konzernabschlüsse und Konzernlageberichte des Emittenten Kapitalmarktinformationen. Genau wie das OLG München geht zwar das OLG Stuttgart davon aus, dass es sich auch bei den Bestätigungsvermerken des Abschlussprüfers um öffentliche Kapitalmarktinformationen handeln soll. Deshalb seien für die Schadenersatzklagen gegen den Prüfer der Wirecard AG gem. § 32b Abs. 1 Satz 1 ZPO ausschließlich die Gerichte am Sitz des Emittenten zuständig. [45]

Diese Rechtsauffassung ist jedoch aus Sicht des Verfassers nicht richtig. Denn beide Gerichte verkennen die bereits genannte Einschränkung des § 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 KapMuG, nach der es sich eben nur bei dem Jahresabschluss und dem Lagebericht des Emittenten um Kapitalmarktinformationen handeln soll, nicht dagegen bei dem mit diesen zusammen im Bundesanzeiger zu veröffentlichenden Bestätigungsvermerk des Abschlussprüfers.

Aus dem Wortlaut des § 325 Abs. 1 Nr. 1 HGB („[...] und den Bestätigungsvermerk“) ergibt sich eindeutig, dass der Bestätigungsvermerk nicht Bestandteil des geprüften Jahresabschlusses und Lageberichts ist, sondern selbständig neben diesen steht und selbständig neben diesen zu veröffentlichen ist. Zudem würde ein Kapitalanleger-Musterverfahren der haftungsbegrenzenden Intention des § 323 Abs. 1 Satz 3 HGB widersprechen und auf den Prüfer unzulässigen Vergleichsdruck aufbauen. Dieser verwendet auch nicht die Kapitalmarktinformation Jahresabschluss und Lagebericht. Deren Veröffentlichung zusammen mit dem Bestätigungsvermerk wird nämlich nicht durch den Prüfer veranlasst, sondern gem. § 325 Abs. 1 HGB durch den Emittenten selbst. Nach der Rechtsprechung des BGH ist der Beschluss des Prozessgerichts über die öffentliche Bekanntmachung eines gem. § 2 KapMuG gestellten Musterverfahrensantrags im Klageregister gem. § 3 Abs. 2 Satz 1 KapMuG selbst dann unanfechtbar, wenn der Rechtsmittelführer geltend macht, dass der Anwendungsbereich des KapMuG von Vornherein nicht eröffnet ist. [46] Wegen der fehlenden Anfechtungsmöglichkeit sollte deshalb mit Rufen nach einem Kapitalanleger-Musterverfahren zurückhaltend umgegangen werden. Gerade die Berufungsgerichte, die gem. § 2 Abs. 1 KapMuG überhaupt nicht Adressat eines Musterverfahrensantrags sein können, sollten sich mit entsprechenden Ratschlägen zurücknehmen.

IV. Besorgnis der Befangenheit gem. § 42 Abs. 2 ZPO

Es erscheint durchaus denkbar, dass aus dem veröffentlichten Beschluss des 3. Zivilsenats und der Pressemitteilung des 8. Zivilsenats des OLG München die Besorgnis der Befangenheit beider Senate gem. § 42 Abs. 2 ZPO resultiert. Denn der von den Richtern gezogene Vergleich richtet sich als Pressemitteilung auch an die Öffentlichkeit. Er scheint damit auch auf deren empörte Reaktion abzuzielen. Das kommt dem Verfasser zumindest gewagt vor. Zudem ist der angestellte Vergleich auch in der Sache problematisch: Denn es macht schon einen Unterschied, ob ein Automobilhersteller die Abgaswerte vorsätzlich und in Kenntnis der Rechtswidrigkeit durch eine verbotene Abschalteinrichtung manipuliert und dies gegenüber seinen Kunden und gegenüber dem Kapitalmarkt bewusst verschweigt oder ob ein Abschlussprüfer fahrlässig, ggf. vielleicht sogar grob-fahrlässig bis hin zu leichtfertig, unzureichende Prüfungshandlungen vornimmt, aber selbst Opfer des Betrugs seines Prüfungsmandanten wird.

Auch der Hinweis des OLG München auf die durch den Bestätigungsvermerk möglicherweise hervorgerufene positive Anlagestimmung [47] lässt aus Sicht des Verfassers die Besorgnis der Befangenheit der Berufungsrichter zumindest möglich erscheinen. Denn eine Anlagestimmung wurde, soweit ersichtlich, bislang weder von den Parteien noch von dem erstinstanzlichen Gericht diskutiert. Im Zivilprozess gilt gem. § 138 Abs. 1 ZPO der Beibringungsgrundsatz. Die Tatsachen, über die das Gericht entscheiden soll, sind von den Parteien vorzutragen. Das Gericht trifft keine eigene Ermittlungspflicht. Zwar soll das Gericht im Rahmen der materiellen Prozessleitung gem. § 139 Abs. 1 Satz 2 ZPO darauf hinwirken, dass sich die Parteien rechtzeitig und vollständig über alle erforderlichen Tatsachen erklären. Jedoch darf das Gericht allein auf solche Gesichtspunkte hinweisen, die in dem bisherigen Sachvortrag der Parteien wenigstens schon andeutungsweise enthalten sind. [48] Auch bezieht sich die Hinweispflicht gem. § 139 Abs. 1 Satz 2 ZPO vorrangig auf das erstinstanzliche Verfahren. Denn die Berufungsinstanz ist grundsätzlich keine neue Tatsacheninstanz. Das ergibt sich aus § 531 Abs. 2 ZPO, der neue Angriffs- und Verteidigungsmittel nur in engen Ausnahmen erlaubt.

Der 3. Zivilsenat des OLG München weist in seinem Beschluss selbst darauf hin, dass die Klägerpartei sich in erster Instanz nicht nur nicht ausdrücklich auf eine positive Anlagestimmung berufen hat, sondern sich diese auch aus den von ihr vorgetragenen Tatsachen noch nicht ergibt. [49] Er macht detaillierte Vorgaben, welche Tatsachen die Klägerin neu vorzutragen hat. Dabei ist es schon zweifelhaft, ob diese Tatsachen im Berufungsverfahren überhaupt noch zu berücksichtigen wären. Denn, wie bereits oben ausgeführt, ist die Berufungsinstanz grundsätzlich keine neue Tatsacheninstanz. Gemäß § 531 Abs. 2 Nr. 1 ZPO können neue Angriffs- und Verteidigungsmittel deshalb nur zugelassen werden, wenn sie einen Gesichtspunkt betreffen, der vom Gericht des ersten Rechtszuges erkennbar übersehen oder fälschlicherweise für unerheblich gehalten worden ist. Andere Tatsachen darf das Berufungsgericht nicht berücksichtigen und auch keinen Beweis über sie erheben. Wegen des Beibringungsgrundsatzes der Parteien kann § 531 Abs. 2 Nr. 1 ZPO jedoch nur solche Tatsachen betreffen, für die der Parteivortrag zumindest ansatzweise bereits einen Anhaltspunkt liefert.

Wie bereits ausgeführt, kommt eine positive Anlagestimmung nach der ständigen Rechtsprechung des BGH nur ganz ausnahmsweise [50] in Frage. Angesichts der vielfältigen kursbeeinflussenden Faktoren des Kapitalmarkts könnte sie sich somit allein im Einzelfall anhand der gem. § 138 Abs. 1 ZPO vom Kläger vorzutragenden konkreten Umstände ergeben. [51] Fehlt es an solchem Tatsachenvortrag, wird vom Gericht des ersten Rechtszuges auch nichts erkennbar übersehen oder fälschlicherweise für unerheblich gehalten. Auf entsprechenden neuen Vortrag sollte dann aber erst recht das Berufungsgericht nicht hinwirken.

V. Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH versus Rückverweisung an das erstinstanzliche Gericht

Da die Abschlussprüfung durch die Richtlinie 2014/56/EU [52] und die Verordnung (EU) Nr. 537/2014 [53], beide vom , durch den EU-Gesetzgeber vollständig harmonisiert ist, kann auch die Reichweite der Prüferhaftung aufgrund der Veröffentlichung des Bestätigungsvermerks nur durch den EuGH bestimmt werden. [54] Angesichts der wirtschaftlichen Bedeutung des Wirecard-Skandals könnte sich deshalb für das OLG München ein – in seinem pflichtgemäßen Ermessen liegendes – Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH gem. Art. 267 Abs. 2 AEUV anbieten. Auch wenn das OLG als Instanzgericht anders als letztinstanzlich entscheidende Gerichte keine Vorlagepflicht gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV trifft, sollte es über die europarechtlichen Aspekte gerade in einem Fall von so wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Bedeutung wie dem Wirecard-Skandal nicht hinwegsehen.

Aber auch die vom OLG München gem. § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO angedachte Zurückverweisung an das erstinstanzliche Gericht zur Nachholung der Beweisaufnahme ergibt wohl Sinn. Denn zumindest wenn man die Rechtsauffassung des OLG München zugrunde legt, hätte die erste Instanz die für eine Pflichtverletzung des Abschlussprüfers angebotenen Beweise unzutreffenderweise für unerheblich gehalten. Eine Rückverweisung an die erste Instanz würde zudem das Problem der möglichen Besorgnis der Befangenheit beim Berufungsgericht (siehe dazu unter IV.) entfallen lassen.

Zwar ist die Frage nach der Anlagestimmung des Bestätigungsvermerks des Abschlussprüfers aus Sicht des Verfassers S. 88eine allein vom Gericht zu klärende Rechtsfrage, für die ein Sachverständigengutachten nicht in Betracht kommen dürfte. Denn anders als bei Ad-hoc-Mitteilungen sind Form und Inhalt des Bestätigungsvermerks durch § 322 HGB gesetzlich vorgegeben und gerade nicht von etwaigen tatsächlichen Gepflogenheiten in der Praxis abhängig, über die ein Gerichtssachverständiger Auskunft geben könnte. Auch bei der Frage, ob eine etwaige Pflichtverletzung vorsätzlich-sittenwidrig i. S. des § 826 BGB ist, handelt es sich um eine allein vom Gericht zu klärende Rechtsfrage. Der Ermittlungsbeauftragte des Bundestages dürfte wohl ebenfalls nicht als Zeuge vernommen werden können, da bereits sein schriftlicher Bericht gem. § 15 Abs. 1 PUAG rechtskräftig als geheim eingestuft wurde. [55] Angesichts der Bedeutung des Geheimnisschutzes für die Tätigkeit parlamentarischer Untersuchungsausschüsse ist von einer Fernwirkung des § 15 Abs. 1 PUAG auszugehen. Aus Sicht des Verfassers sollte die Geheimhaltung von Dokumenten nicht durch die Vernehmung ihrer Urheber als Zeugen umgangen werden. Denn die Einstufung als GEHEIM kann gem. § 30 Abs. 4 Satz 2 PUAG durch den Ermittlungsrichter beim BGH aufgehoben werden. Zur Aufhebung des Geheimnisschutzes ist somit ein geordnetes gerichtliches Verfahren vorgesehen, das nicht umgangen werden darf.

Für die Beurteilung der Pflichtverletzung dagegen bedarf es eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens, da es dem Gericht, worauf das OLG München richtigerweise hinweist, insofern an eigener Sachkunde fehlen dürfte. Bei einer Beweisaufnahme direkt durch das Berufungsgericht selbst würde beiden Parteien eine Tatsacheninstanz genommen werden, weshalb eine Zurückverweisung an das LG durchaus Sinn ergeben dürfte. Zurecht betont das OLG in diesem Zusammenhang, dass der Prüfer nicht einer „uferlosen“ Inanspruchnahme prüfungsfremder Dritter ausgesetzt werden sollte. Deshalb sind an eine vorsätzlich-sittenwidrige Schädigung besondere Anforderungen zu stellen [56], die über bloße Prüfungsfehler und Unachtsamkeiten hinausgehen. Dies wird von der Rechtsprechung aber bisweilen verkannt. [57]

VI. Ausblick

Der Abschlussprüfer wird dadurch gerade nicht aus seiner Haftung entlassen. Denn er haftet gegenüber dem Prüfungsmandanten für Prüfungsfehler und andere Pflichtverletzungen. Gerade im Wirecard-Skandal sieht sich der Abschlussprüfer neben den einzelnen Anlegerklagen einer massiven, wenn auch noch nicht rechtshängigen, Schadenersatzforderung des Insolvenzverwalters ausgesetzt, der von vorsätzlichem Fehlverhalten auf Seiten des Prüfers ausgeht. Bei grober Fahrlässigkeit lässt das FISG die Haftungshöchstgrenzen gem. § 323 Abs. 2 Satz 2 HGB n. F. zumindest dann entfallen, wenn es um die Prüfung einer börsennotierten Aktiengesellschaft geht. Die der Höhe nach unbegrenzte Prüferhaftung bei grober Fahrlässigkeit gilt zwar wegen des im Rechtsstaatsprinzip gem. Art. 20 Abs. 3 GG zum Ausdruck kommenden Rückwirkungsverbots nicht für bereits abgeschlossene Prüfungen wie im Wirecard-Skandal. Sie wirkt sich gem. Art. 86 Abs. 1 Satz 1 EGHGB n. F. erst für Abschlussprüfungen für nach dem  beginnende Geschäftsjahre aus.

Allerdings bedeutet das zumindest für künftige Bilanzskandale, dass die Insolvenzgläubiger selbst ohne einen Direktanspruch gegen den Prüfer angemessen und gleichmäßig entschädigt werden können, ohne dass es des Rückgriffs auf den Tatbestand der vorsätzlich-sittenwidrigen Schädigung gem. § 826 BGB bedarf. Anleger bleiben jedoch auch künftig außen vor, wenn sich die Pflichtverletzung des Prüfers nicht direkt gegen sie richtet. Denn sie werden als Anteilseigner gem. § 199 InsO erst nach allen übrigen Gläubigern entschädigt. Das ist eines der Grundprinzipien des deutschen Insolvenzrechts, wie der BGH erst jüngst bestätigte. [58]

Autor

RA Dr. Philipp Fölsing
ist Rechtsanwalt in Hamburg mit den Tätigkeitsschwerpunkten Insolvenz-/Sanierungsrecht, Gesellschafts- und Berufsrecht.

Fundstelle(n):
WP Praxis 3/2022 Seite 82
NWB LAAAI-04320


1OLG München, Pressemitteilung v. , Klagen wegen der Haftung des Abschlussprüfers für die Testate der Bilanzen der Wirecard AG bedürfen voraussichtlich einer umfangreichen Beweisaufnahme, abrufbar unter https://go.nwb.de/qwj1s.

2, abrufbar unter https://go.nwb.de/w5mpc, abrufbar unter https://go.nwb.de/40b3g.

3Vgl. so etwa  NWB ZAAAH-48408, Rz. 39, bezugnehmend auf  NWB NAAAG-92022, Rz. 16 m. w. N.

4Vgl.  NWB ZAAAH-48408, Rz. 39, bezugnehmend auf  NWB YAAAE-34539, Rz. 15.

5Vgl.  NWB ZAAAH-48408, Rz. 39.

6, Rz. 6.

7Vgl. dazu  NWB ZAAAC-77551, Rz. 16 – ComROAD VIII.

8Vgl. dazu grundlegend  NWB PAAAB-97852 – INFOMATEC II.

9, Rz. 8.

10Vgl. dazu etwa  NWB YAAAE-34539, Rz. 16 f.

11, Rz. 10.

12, Rz. 11 f.

13, Rz. 13.

14, Rz. 15.

15, Rz. 8, bezugnehmend auf  NWB ZAAAC-77551, Rz. 27 – ComROAD VIII.

16, Rz. 21 f.

17, Rz. 26.

18, Rz. 38.

19, Rz. 40.

20, Rz. 43.

21, Rz. 44.

22Vgl. Fölsing, Das Haftungsrisiko des Abschlussprüfers im Prüfungs-Beratungs-Konflikt, 2006, S. 49.

23BGBl 2021 I S. 1534 ff.

24Vgl. so bereits Fölsing, WP Praxis 9/2020 S. 262, 266 NWB KAAAH-56218; Fölsing, WP Praxis 6/2019 S. 157, 162 NWB KAAAH-15601.

25Vgl. Fölsing, WP Praxis 9/2020 S. 262, 267 NWB KAAAH-56218; Fölsing, WP Praxis 6/2019 S. 157 f. NWB KAAAH-15601.

26Vgl. OLG Frankfurt am Main, Urteil v.  - 1 U 124/07, Rz. 34 f.

27, Rz. 47; vgl. ebenso -17/21, NZG 2021 S. 1459.

28Vgl. Fölsing, WP Praxis 6/2019 S. 157, 163 NWB KAAAH-15601; Fölsing, ZCG 2013 S. 115, 117.

29Vgl.  NWB ZAAAH-48408, Rz. 39, bezugnehmend auf  NWB YAAAE-34539, Rz. 39.

30Vgl. so bereits Fölsing, WP Praxis 9/2020 S. 262, 267 NWB KAAAH-56218.

31Vgl. Fölsing, EWiR 2020 S. 623 f.

32Vgl.  NWB ZAAAC-77551, Rz. 27 – ComROAD VIII.

33Vgl.  NWB ZAAAC-77551, Rz. 16 – ComROAD VIII.

34Vgl.  NWB PAAAB-97852 – INFOMATEC II.

35Vgl.  NWB OAAAB-97848 – INFOMATEC I.

36Vgl. Fölsing, Das Haftungsrisiko des Abschlussprüfers im Prüfungs-Beratungs-Konflikt, 2006, S. 186.

37Vgl.  I-22 U 31/20, WPK-Magazin 3/2021 S. 64 f.

38Vgl. Thole, ZIP 2020 S. 2533; a. A. Bitter, ZIP 2021 S. 653.

39Vgl. so ausdrücklich  NWB ZAAAH-69394, Rz. 22 f., im Anschluss an , ZInsO 2020 S. 426, 428, Rz. 29 f.

40Vgl. so bereits Fölsing, WP Praxis 2/2021 S. 41, 46 NWB QAAAH-69144.

41Vgl. genauso für den fakultativen Aufsichtsrat/Beirat  NWB JAAAD-53514, Rz. 21 – Doberlug.

42Vgl. zu den unterschiedlichen Haftungsregimes bei Abschlussprüfern und Vorstand/Aufsichtsrat i. S. des AktG Fölsing, WP Praxis 2/2021 S. 41, 45 NWB QAAAH-69144; Fölsing, ZInsO 2015 S. 1478, 1481.

43Vgl.  NWB KAAAD-35523, Rz. 59.

44Vgl.  NWB KAAAD-35523, Rz. 56.

45Vgl. -17/21, NZG 2021 S. 1459.

46Vgl.  NWB YAAAH-27681, Rz. 15 f.

47, Rz. 15.

48Vgl.  NWB UAAAC-01782.

49, Rz. 15.

50Vgl.  NWB ZAAAC-77551, Rz. 27.

51 NWB OAAAB-97848 – INFOMATEC I;  NWB PAAAB-97852 – INFOMATEC II.

52ABl EU 2014 Nr. L 158 S. 196 ff.

53ABl EU 2014 Nr. L 158 S. 77 ff.

54Vgl. so bereits Fölsing, WP Praxis 9/2020 S. 262, 264-266 NWB KAAAH-56218; Fölsing, WP Praxis 6/2019 S. 157, 161 f. NWB KAAAH-15601.

55Vgl. , abrufbar unter https://go.nwb.de/69njn, abrufbar unter https://go.nwb.de/lbefe, abrufbar unter https://go.nwb.de/cz6n4.

56Vgl. , Rz. 26.

57Eine vorsätzlich-sittenwidrige Schädigung bei bloß grob-fahrlässigen Prüfungsfehlern bejahend siehe etwa , kritisch dazu Fölsing, EWiR 2020 S. 623 f.

58Vgl.  NWB ZAAAH-69394, Rz. 22 f.

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